[03] Steckkontakt, Ausgabe Dez. 1984
Ein
Brief an die Theologen
Bei einem
Samstaggespräch (3. Nov. 1984) zitierte ich aus dem Evangelium nach Matthäus die
Rede Jesu vom Urteil des Weltenrichters (Mt 25,31-46). Ich meine, dass diese
Perikope große Bedeutung für unser Gemeindeleben und Gemeindeverständnis hat.
Lieber
Leser: Greif zur Bibel und lies!
Alle
Menschen, wirklich alle, werden vom Weltenrichter in zwei Gruppen geteilt. Die
eine Gruppe wird vom Vater gesegnet, sie erhält Gottes neue Welt zum Besitz, von
Anfang an war das so gedacht.
Was sind die
Kriterien der Unterscheidung? Für die Unwissenden wird das erklärt (positiv vv
35-40, auf gut jüdisch aber auch negativ vv 41-45). Diese Kriterien gelten aber
für alle, egal, ob sie zu den Wissenden oder Unwissenden zählen. Diese Kriterien
gelten also auch für uns, wir sind ja Wissende und Unwissende zugleich. Hüten
wir uns davor, uns gleich zu den Wissenden zu zählen. Das birgt die Gefahr,
andere in der Gemeinde überheblich zu behandeln (Mt 18,10).
Und was ist
die Lehre von Gott (= Theologie) in dieser Geschichte? Sie sagt, dass Theologie
(= Lehre von Gott) zweitrangig ist. Was rufen wir laut nach Theologie? Im
Extremfall brauchen wir sie gar nicht. Was rufen wir nach richtiger Motivation?
Sie kann hilfreich sein, aber im entscheidenden Augenblick des Tuns ist sie
unwichtig.
Auch das
Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,29-37) schlägt in die gleiche Kerbe:
Die Theologie führt den Priester am geschundenen Mitmenschen vorbei, die
Theologie verleitet den Leviten zum Nichtstun. Und was macht der, der keine
richtige theologische Ausbildung hat? Der, der vielleicht gar keine theologische
Ausbildung hat? Er heilt, er hilft, er begleitet, er kräftigt, er sättigt.
Ich weiß,
dass auch Theologen dazu fähig sind. Aber ehrliche Theologen sagen auch, dass
zum Menschsein, zum Christsein die Theologie nicht Voraussetzung ist.
Auch
Matthäus erzählt in seinem Evangelium, dass Jesus vom Ruf nach mehr Theologie,
die zu Gesetzen und Regeln führt, nicht viel hält. Jesus ermahnt eindringlich,
den Willen Gottes besser zu erfüllen als die Theologen (Mt 5,20). Wir sollen die
Menschen so behandeln, wie wir selbst von ihnen behandelt werden wollen. Das ist
alles, was das Gesetz und die Propheten verlangen (Mt 7,12). Nur wer tut, was
der Vater im Himmel will, der ist Jesu Bruder und Jesu Schwester (Mt 12,50),
denn die Weisheit Gottes wird bestätigt durch die Taten, die sie vollbringt (Mt
11,19). Jesus selbst staunt und sagt: „Wahrhaftig, so ein Vertrauen habe ich
unter Religiösen nirgends gefunden! Darum sage ich euch: Noch viele werden aus
allen Windrichtungen, verschiedener Herkunft und verschiedenster Anschauungen
zusammen mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tische sitzen (= Heilige sein), wenn
Gott sein Werk vollendet." (Mt 8,10ff). Jesus selbst preist den Vater dafür,
dass er den Unwissenden zeigt, was er den Theologen verborgen hat (Mt 11,25).
Jesus stellt eindeutig fest: „Nicht jeder, der 'Herr' zu mir sagt, wird in das
Himmelreich eingehen, sondern der, der auch tut, was der Vater im Himmel will"
(Mt 7,21).
Was ist nun
die große Gefahr, die Jesus im Ruf nach Theologie, im Ruf nach Theologen sieht?
Die
Theologen wollen Beweise (Mt 12,38ff. 16,1ff). „Wie verkehrt sind doch diese
Leute!", meint er (Mt 12,39, 16,4). Außerdem: Die Theologen lechzen nach
Vorschriften (Mt 15,1ff), sie plagen die Menschen mit Geboten und Verboten (Mt
11,28). Ja, Jesus warnt eindringlich vor den Theologen (Mt 16,6), er warnt vor
ihrer Schauspielerei (Mt 23,13ff; 29ff) und damit vor der Falschheit, die sich
durch Überbetonung der Theologie einschleichen kann (Mt 7,15).
Im
Gegenteil: Jesus, und damit Gott, denn Jesus ist Gottes Wort, erwartet von uns
eine innere Haltung, die auch ohne Theologie auskommen kann (Mt 25,31-46 und Lk
10,29-37 nochmals lesen!). Diese innere Haltung eröffnet neue, uralte
Möglichkeiten: Der Beauftragte Gottes zerbricht nicht das geknickte Rohr, den
glimmenden Docht löscht er nicht aus. So handelt er, bis sich die neue
Rechtsordnung durchsetzt. Auf ihn werden alle Menschen ihre Hoffnungen setzen
(Mt 12,20 zitiert Jes 42,2-4).
Darum:
Verurteilt nicht andere, damit Gott euch nicht verurteilt. Denn euer Urteil wird
auf euch zurückfallen, und ihr werdet mit demselben Maß gemessen, das ihr bei
anderen anlegt (Mt 7,1f).
Darum: Lasst
Unkraut und Weizen wachsen bis zur Ernte. Erst wenn es so weit ist ... (Mt
13,30). Gott lässt ja auch die Sonne scheinen auf böse wie auf gute Menschen, er
lässt es regnen auf alle, ob sie ihn ehren oder verachten (Mt 5,20). Das Urteil
steht auch uns nicht zu.
Verwenden
wir nun aber auch den Verstand („Seid klug wie die Schlangen ...") und suchen
ehrlich ("... und doch ohne Hinterlist wie die Tauben" Mt 10,16) nach dem,
worauf es ankommt.
Die meisten
Exegeten sind der Ansicht, dass Matthäus mit seinem Evangelium, mit seiner
Zusammenstellung von Jesusworten und Jesusberichten, seiner Gemeinde eine
Handhabe für ihr Gemeindeleben gibt, woran sich die innere Haltung jedes
Gemeindemitgliedes orientieren kann. Denn keine Stadt, keine Familie, keine
Gemeinde, in der man untereinander in Streit liegt, kann bestehen (Mt 12,25).
Was hilft
uns der Streit über eine enge oder weite Sicht des Begriffes „Heiliger"? Noch
dazu, wenn Matthäus erzählt, dass Jesus selbst das Problem nicht eng sieht (Mt
8,10 nochmals lesen!)? Welche Taten vollbringt die Weisheit (Mt 11,19)? Wird
dadurch das Menschsein und Christsein verwässert? Wer ruft da
Wer ruft da
nach Regeln für die Gemeinde, die im Evangelium sich begründen? Hier ist eine:
Hütet euch vor den Theologen! (Mt 16,6 und 11,25).
Ich habe bei
meinen Überlegungen absichtlich nur Matthäus zitiert (einzige Ausnahme: Der
barmherzige Samariter), damit keiner mich verdächtigt, ich hole mir nur die
Rosinen aus dem Neuen Testament.
Ich habe
absichtlich einiges übertrieben, aber nur deshalb, um einiges deutlicher
hervortreten zu lassen. Einiges ist euch zu spitz? Dann brecht die Spitzen ab
und denkt über den Kern dieser Überlegungen nach.
Wenn sie falsch sind, so weist mich zurecht. Ruft an. Schreibt mir. Redet mit mir.
Erhard Eibensteiner
--> Zur Übersicht des Archives