[35] Steckkontakt, Ausgabe Dez. 2007
Ich habe das Christkind gesehen
Es ist kalt. Es konnten aus dem zerbombten Wohnhaus in der Stadt nur wenige
warme Sachen mitgenommen werden. Das einfache Sommerhaus, jetzt unser Zuhause,
verfügt aber über feste Mauern, eine Wärmequelle: den Herd in der Wohnküche. Im
Kinderzimmer, das noch durch einen Vorraum getrennt war, gibt es keine Heizung.
Wärme kam nur durch die offene Türe aus der Wohnküche.
Kalt und eisig ist es heuer im Dezember 1944, es tobt der Krieg. Eine Frontlinie
ist ein paar Kilometer entfernt. Gibt es überhaupt noch eine Frontlinie? Meine
Heimatstadt brennt.
Die Mutter versucht, aus Schmalz und etwas Kakao Schokoladekekse zu machen, die
in kleinen Häufchen auf einem Blech im Schnee fest werden soll. Die Nasen fast
an dieser Köstlichkeit, versuchen wir Kinder den Duft einzusaugen.
Es geht auf den Hl. Abend zu. Der Vater geht zum Nachbarn, einer großartigen
Bauernfamilie, die uns mit dem Ochsenkarren aus der 25 km entfernten Stadt in
zwei Tagesetappen herausholte. Der Vater erbittet einen Weihnachtsbaum. Der
Bauer holt aus seinem Wald eine kleine Tanne, etwas schief mit unterschiedlich
langen Ästen. „Aus dem wird eh nix“, sagt der Bauer, „den kannst haben, Jakob“.
Aufgeregt und voll Erwartung sehen wir Kinder dem HI. Abend entgegen. In der
Schule wird erzählt, was für Geschenke es geben wird. Einen Schlitten, einen
Nähkorb, eine neue Hose oder Jacke.
Jeden Abend schließt sich die Mutter in der Wohnküche ein. Neugierig horchen wir
an der Tür, aber man hört gar nichts. Der Landgreißler kramt aus seinen
Beständen Seidenpapier hervor. Ganz vorsichtig dürfen wir an einer Ecke das
Papier zwischen den Fingern fühlen. So fein und schön muss es sein, wenn es
keinen Krieg mehr gibt.
Vom
Himmel fallen leuchtende, glitzernde, todbringende Christbäume. Geschenke aus
Silber liegen am Boden. Der Vater ermahnt uns mit ungewohnt strenger Stimme, all
diese Dinge nicht anzurühren. In der Schule gibt es große Aufregung. Rudi hob so
eine Art Füllfeder auf und versuchte sie aufzuschrauben. Seine Hand flog in
Fetzen.
Vater befestigt am Baum in der zweiten Astreihe von oben ein starkes Seil.
Wofür? Die Mutter hat mit Waschen, Bügeln und Wolle spinnen bei den Bauern Mehl,
Kartoffeln, Schmalz und Öl erarbeitet. Vater hat für viele Tage Schwerarbeit im
Wald einen Laib Brot und ein paar Meter Wollstoff nach Hause gebracht.
Tief verschneit ist der Wald. Dicke Schneepölster liegen auf den Ästen, der Bach
ist vereist, unter dem Eis hört man das Wasser gurgeln, als würde es mit der
Unterseite des Eises spielen. Die Mutter sagt: „Geht doch zum kleinen Teich
,eisrieseln‘!“ Es wird schon dunkel, normal dürfen wir das nie. Wir Kinder
rutschen und schleifen uns auf dem Eis in einen Taumel hinein. Doch plötzlich
ist in unserer Stube so ein eigenartiges Licht! Normal gab es ja nur die
Petroleumlampe, aber das war ja viel heller!
Die Eltern stehen vor der Tür und rufen: „Kinder, kommt ganz schnell, das
Christkind war da!" Plötzlich schien es, als sei der Schnee aus Himmelsgold und
die Sterne nur für uns am Himmel.
In der Stube hing der Christbaum über dem großen Esstisch — es war kein Platz,
um ihn auf den Boden zu stellen — und leuchtete mit tausend Kerzen. Es waren
aber sicher nur zehn! In Seidenpapier gewickelte Zuckerstücke hingen vom Baum,
Schokoladenstücke und rote Äpfel. Unter dem Baum lagen Wollsocken für jeden von
uns, eine gestrickte Weste und aus Heu und Stoffresten gemachte Puppen ohne
Gesichter. An einer Stange waren zwei Räder befestigt und wenn man sie bewegte,
flatterte so eine Art Vogel mit Flügeln aus Holzspänen.
An der Türe klopfte es. Die Nachbarin trat herein mit einem Korb, der mit einem
roten Geschirrtuch zugedeckt war. Sie tat es weg, im Korb lag ein Gugelhupf,
Kekse mit Butter gemacht, Wurst, Käse, ein großes Stück Butter und warmes Brot.
Meine Eltern weinten ...
aber ich habe das Christkind gesehen.
Gertrud Steindl
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